Nach der Theorie folgt die Praxis. Das ist in jedem Berufsstand so und auch die angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer absolvieren vor ihrer Ordination diesen Praxistest im Vikariat. Das Vikariat in der Evangelischen Kirche ist der praktische Teil der Ausbildung zum Pfarrer oder zur Pfarrerin und dient dazu, das theoretische Wissen aus dem Theologiestudium in die Praxis umzusetzen. Kurz gesagt: Im Vikariat werden Vikare und Vikarinnen zu vielseitigen Persönlichkeiten ausgebildet, die in der Lage sind, die vielfältigen Aufgaben eines Pfarrers oder einer Pfarrerin wahrzunehmen. Doch die Vikariatszeit ist nicht immer einfach – besonders dann, wenn sie sich aus familiären Gründen nicht so einfach absolvieren lässt. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist Johann Anton Zieme, der sich augenblicklich in der Vikariatszeit befindet und den Spagat zwischen Vikariat und Familien meistern muss.
Vikar Johann Anton. Foto: Marie-Dorothee Zieme
Schon die familiäre Konstellation ist spannend: Johann Anton Zieme lebt mit seiner Frau, die bereits Pfarrerin ist, und seinen zwei Kindern (3 Jahre und 3 Monate alt) in Halle. Klar war, dass Johann Anton im März das Gemeindevikariat im Kirchspiel Krostitz (Evang. Kirchenkreis Torgau-Delitzsch) beginnen wird – ebenso war längst abgesprochen, dass er im Mai und Juni zwei Monate Elternzeit nimmt. Über all dies kamen wir mit dem angehenden Pfarrer ins Gespräch.
Sie steigen in Krostitz ins Vikariat mit zwei Monaten Baby-Pause ein... Das ist ungewöhnlich. Wie hat die Gemeinde darauf reagiert?
Mein Vikariat hat bereits im September 2023 begonnen, zuerst hauptsächlich im Religionsunterricht an zwei Gymnasien in Halle/Saale. Dennoch habe ich schon manches Mal Gottesdienste im Kirchspiel Krostitz gestaltet. Seit Anfang März bin ich „in Vollzeit“ in der Gemeinde aktiv und habe zum Beispiel auch schon meine erste Bestattung geleitet. Dass ich mir im Mai und Juni zwei Monate Elternzeit genommen habe, um in den ersten Lebensmonaten meines zweiten Kindes zu Hause zu sein, wurde in der Gemeinde durchweg positiv aufgenommen. Insbesondere Mütter freuten sich, dass junge Väter wie ich die heutigen Möglichkeiten der Elternzeit nutzen.
Gottesdienst in der Krostitzer St. Laurentius-Kirche. Foto: Stephanie Bechert
Wie kam es zu dem Berufswunsch, Pfarrer zu werden?
Ich stamme aus einer Familie von Pfarrerinnen und Pfarrern. Von vier Generationen im Pfarrberuf vor mir weiß ich – vielleicht reicht die Familientradition auch noch länger zurück. Direkt nach dem Abitur wollte ich aber Physik oder Mathematik studieren. Doch zuerst habe ich ein Jahr in Taizé mitgelebt und mitgearbeitet.
Die Klostergemeinschaft in Frankreich ist ein interessanter und inspirierender Ort…
Das stimmt. Seit ich 15 Jahre alt war, bin ich regelmäßig bei den Jugendtreffen nach Taizé gefahren. Und mit 19 Jahren habe ich dann dort ein Jahr „Kloster auf Zeit“ verbracht. Dieses Jahr hat mir gezeigt, dass mein Platz außerhalb der Klostermauern ist, aber ich fühlte mich dazu berufen, mein Leben in den Dienst der Kirche zu stellen. Und so begann ich danach mein Theologie-Studium – hauptsächlich in Berlin mit einem Auslandsjahr in Beirut im Libanon.
Was folgte danach?
Ziemlich schnell habe ich mich dabei für die wissenschaftliche Seite der Theologie begeistert, insbesondere die Geschichte der Alten Kirche. Und so habe ich nach meinem Examen im Jahr 2018 meine Doktorarbeit an der Theologischen Fakultät in Halle bis 2023 geschrieben – gefördert durch ein Stipendium der „Studienstiftung des deutschen Volkes“.
Wo sehen Sie ihren Platz in der Kirche?
Ich möchte auf jeden Fall an der Gestaltung und Weiterentwicklung meiner Kirche aktiv mitwirken, wofür meine theologische Ausbildung einige der dafür benötigten Kompetenzen vermittelt hat. Das Vikariat habe ich nun begonnen, um diese Kompetenzen an der Praxis und im Alltag zu schärfen und herauszufinden, ob das Pfarramt der richtige Weg für mich ist.
Szenenwechsel. Regelmäßig muss Johann Anton Zieme in die Lutherstadt Wittenberg pendeln. Dort am Schlossplatz 1 hat das Evangelische Predigerseminar seinen Sitz und hier finden regelmäßig Treffen der jungen Vikarinnen und Vikare statt. Wittenberg – die kleine Stadt und ihre große Geschichte – hat die Arbeit des Predigerseminars geprägt. 1817 wurde das Predigerseminar in den Räumen des Augusteums am Lutherhof eingerichtet. Über fast zweihundert Jahre lebten und arbeiteten Vikare an diesem Ort gemeinsam und bereiteten sich auf das Pfarramt vor. Die frühere Lutherhalle, die heute Bestsandteil der Stiftung Luthergedenkstätten ist, ging aus dem Predigerseminar hervor.
2012 zog das Predigerseminar aus dem Augusteum in ein Interim. Anlässlich des Jubiläums „200 Jahre Predigerseminar Wittenberg“ wurde am 29. September 2016 das Christine-Bourbeck-Haus als neues Unterkunftsgebäude des Predigerseminars in Dienst genommen. Ab Januar 2017 bezogen Vikare in diesem Haus ihre neuen Unterkünfte. Seit September gleichen Jahres werden die Seminarveranstaltungen in den neuen Räumen des Predigerseminars in der Dachetage des Wittenberger Schlosses durchgeführt. Das Evangelische Predigerseminar Wittenberg wird von der Union Evangelischer Kirchen (UEK) getragen. An der Ausbildung am Predigerseminar Wittenberg beteiligen sich vier Landeskirchen: Evangelische Landeskirche Anhalts, Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und der Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens (EVLKS).
Das Christine-Bourbeck-Hause am Wittenberger Predigerseminar. Foto: Andreas Bechert
Neu am Predigerseminar ist seit wenigen Jahren der Tageskurs. Er ist speziell für Vikarinnen und Vikare gedacht, die auf Grund ihrer familiären Verhältnisse den parallel angebotenen Wochenkurs nur schwer absolvieren können. Für einen Tag in der Woche kann man zu Hause die Betreuung des Nachwuchses leichter absichern – gelingt dies nicht, dann darf man sein Kind mit ins Predigerseminar bringen. Dort wartet in der 2. Etage des Christine-Bourbeck-Hauses schon Anne Güthling auf die Kinder, die sie dann mütterlich betreut. Der Tageskurs 2024/25 wird von 15 Vikarinnen und Vikaren besucht und viele von ihnen nutzen dieses Betreuungsangebot vor Ort.
Tageskurs mit Kinderbetreuung in Wittenberg – ist das eine gute Erfindung?
Ohne die Möglichkeit, das Predigerseminar in Form des Tageskurses zu absolvieren, wäre das Vikariat für mich als junger Vater zur Zeit nicht in Frage gekommen. Der Tageskurs ist ein wichtiger und großer Schritt in Richtung einer familienfreundlicheren Organisation des Vikariats und dient auch der Modernisierung des Berufsbildes des Pfarramts. Die Predigerseminare in der „Wochenform“ sind ja auch Kinder des 19. Jahrhunderts, wo es eben männliche Pfarrer waren, die sich nicht um eine Familie kümmern brauchten oder wollten und deren Rollenbild in dem Begriff „Prediger“ aufging. Und für die Gemeinden ist es sicherlich auch schöner, wenn man als Vikar oder Vikarin nicht mehr wochenweise, sondern immer nur einen Tag „weg“ ist – zumal sich das montags ja kaum bemerkbar macht.
Johann Zieme beim Tageskurs in der Aula des Wittenberger Predigerseminares. Foto: Andreas Bechert
Also funktioniert der Spagat zwischen Vikariat und Familie gut?
Natürlich ist und bleibt es anstrengend, zumal ich einfach auch viel am Wochenende arbeiten muss, wo Kitas geschlossen sind. Aber bisher haben wir es als Familie hinbekommen. Und aus den Gemeinden des Kirchspiels Krostitz wurde mir bisher auch immer großes Verständnis für meine Situation entgegengebracht.
Vikariat im Kirchspiel Krostitz... warum ausgerechnet dort?
Krostitz und einige andere Orte des Kirchspiels waren mir vorher nur von Bierflaschen [Anmerkung des Autors: In Krostitz steht die berühmte Ur-Krostitzer Brauerei!] und Durchfahrten bekannt. Nach meiner Bewerbung für das Vikariat in der EKM wurde mir dann das Kirchspiel Krostitz als Vikariatsort vorgeschlagen. Ich bin dann einmal nach Krostitz gefahren und war von den schönen Kirchen und Ortschaften sowie von dem Gespräch mit Pfarrer Dr. Friedemann Krumbiegel so angetan, dass ich dem Vikariat in Krostitz dann zugestimmt habe.
Welche Intention verbinden Sie mit dem Vikariat in Krostitz?
Was meine Erwartungen betrifft, so bin ich mit großer Offenheit für das christliche Leben in mein Vikariat gegangen, das in den Gemeinden besteht. Mein Eindruck ist, dass die Chancen und Herausforderungen für christliches Leben in Krostitz und im gesamten Kirchspiel typisch für Landgemeinden in Mitteldeutschland sind: zum Beispiel eine starke Bindung an die Orte und Traditionen, der hohe Wert der Familie, aber auch das Schrumpfen der Mitgliederzahlen oder die Verantwortung für Kirchgebäude, Friedhöfe und andere Immobilien.
Vor allem bin ich froh, in Krostitz eine gute Betreuung durch meinen Mentor – Pfarrer Dr. Friedemann Krumbiegel – zu haben, der mir eine intensive Reflexion in regelmäßigen Gesprächen bietet, mir aber auch viele Freiheiten lässt.
Andreas Bechert